Kurdische, türkische und arabische Ansprüche
Am Vorabend des Krieges gegen den Irak konzentrieren sich viele Begehrlichkeiten auf die Erdölstadt Kirkuk. Die Kurden wollen sie in den künftigen Bundesstaat Kurdistan integrieren. Doch auch die turkmenische Minderheit meldet Ansprüche an. Menschenrechtsorganisationen warnen vor ethnischen Konflikten.
Neue Zürcher Zeitung
19. März 2003
Von Inga RoggDie "Perle Kurdistans" hat der legendäre kurdische Guerillaführer Mustafa Barzani die Erdölstadt Kirkuk genannt. Das ist eine Zeit lang her, aber auch heute gilt für die irakischen Kurden der Grundsatz, dass sie allenfalls zu Zugeständnissen, niemals aber zum Verzicht auf die ökonomisch wie strategisch bedeutsame Stadt bereit sind. Gemäss einem im November vom kurdischen Parlament verabschiedeten Verfassungsvorschlag sollen die ölreichen Gebiete um Kirkuk und Khanakin sowie verschiedene Gebiete um die Stadt Mosul in der Nach-Saddam-Ära in den zu schaffenden Bundesstaat Kurdistan integriert werden. Auf ihrer Konferenz in London kamen die irakischen Oppositionsgruppen überein, dass die in den letzten Jahrzehnten vom irakischen Regime betriebene Umsiedlungspolitik rückgängig gemacht werden soll. Den Vertriebenen soll die Rückkehr an ihre ehemaligen Wohnorte ermöglicht werden, für das zugefügte Leid sollen sie entschädigt werden.
Vertreibung der ethnischen Minderheiten
In einem am Freitag veröffentlichten Bericht hat die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch indes vor der Gefahr von Racheakten und ethnischen Konflikten gewarnt, sollten nach einem Regimewechsel keine Vorkehrungen für eine geordnete Rückführung der Vertriebenen getroffen werden. Von den USA und ihren kurdischen Verbündeten hat die Organisation gefordert, die Sicherheit der anstelle der Kurden angesiedelten Araber zu garantieren.Wegen der grossen Ölvorkommen in seiner Umgebung ist Kirkuk seit Jahrzehnten der zentrale Streitpunkt zwischen dem irakischen Regime und den Kurden. Um die kurdischen Ansprüche zu unterlaufen, hat das Regime in den siebziger Jahren begonnen, die ethnische Landkarte durch Umsiedlungen und Vertreibungen zu verändern. Kurden, teilweise aber auch Turkmenen und assyrischen Christen wurde das Wohnrecht in Kirkuk entzogen, ihr Haus- und Grundbesitz an arabische Familien und Stämme aus dem Zentral- und Südirak übereignet. Als das Regime im Jahr 1988 während der sogenannten Anfal-Offensiven ganze Landstriche verwüstete und Zehntausende Kurden ermordete, wüteten Saddams Schergen in den Gegenden um Kirkuk und Khanakin besonders erbarmungslos. Auch nach 1991 hielt das Regime an seiner "Arabisierungspolitik" fest. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen wurden seitdem 120 000 Kurden, Turkmenen und assyrische Christen zwangsweise umgesiedelt.
Turkmenen als Ankaras Agenten
In immer schrilleren Tönen hat in den letzten Wochen und Monaten indes auch die Irakische Turkmenische Front Anspruch auf Kirkuk erhoben. Dabei beruft sie sich auf Rechte aus osmanischer Zeit, als die türkischsprachige Minderheit eine dominante Rolle im Verwaltungsapparat spielte sowie die städtische Oberschicht von Kirkuk bildete. Die Turkmenische Front hat auch das Schreckensszenario eines Genozids an die Wand gemalt, sollten die Kurden die Kontrolle über die Erdölprovinz erlangen.Dafür gibt es derzeit aber kaum Indizien, zumal die Turkmenen unter den beiden kurdischen Regierungen zahlreiche Rechte geniessen, die ihnen von Bagdad verwehrt werden. Türkische Schulen, Medien, Kultureinrichtungen und Parteien gibt es heute selbst in Städten ohne turkmenischen Bevölkerungsanteil, was vor allem auf intensives Sponsoring der Türkei zurückzuführen ist. Hochrangige turkmenische Politiker wie der Minister Jawdat Najar beschuldigen die Turkmenische Front, den Konflikt zu schüren, um der Türkei einen Vorwand für einen Truppeneinmarsch zu liefern. Es gebe keinen Grund für eine türkische Militärintervention zum Schutz der turkmenischen Minderheit, sagte er kürzlich gegenüber der BBC.
Die Peschmerga - eine "Nordallianz"?
Bei vielen Kurden gilt die Turkmenische Front als Trojanisches Pferd: Ihre von türkischen Offizieren ausgebildeten Milizionäre könnten einen bewaffneten Konflikt provozieren, um so eine Intervention des Nachbarlandes heraufzubeschwören, lautet eine weit verbreitete Meinung. Entsprechend harsch fielen auf kurdischer Seite die Reaktionen aus, als in Ankara laut über eine Besetzung des irakischen Kurdistan nachgedacht wurde. Masud Barzani, dessen KDP die Gebiete an der türkischen Grenze kontrolliert, drohte dem Nachbarland offen mit einer Revolte. Um die Drohung zu unterstreichen, zog die KDP Peschmerga-Einheiten zusammen. Obwohl die irakischen Kurden in den neunziger Jahren Ankara im Kampf gegen die PKK unterstützten, ist heute die Angst gross, das übermächtige Nachbarland könnte ihre Autonomie zerstören und sie nach dem Sturz des Despoten erneut unter die Knute eines zentralistischen Regimes zwingen. Nachdem Washingtons Aufbau einer Nordfront am Veto des türkischen Parlaments gescheitert ist, scheint die Gefahr fürs Erste gebannt. Damit stellt sich aber die Frage, wie Amerika im Kriegsfall die Ölfelder um Kirkuk und Mosul sichern will. In den ursprünglichen Planungen des Pentagons sollten amerikanischen Spezialtruppen diese Aufgabe übernehmen, um ihre Einnahme durch Peschmerga-Verbände zu verhindern. Den gegenteiligen Beteuerungen der vergangenen Monate zum Trotz deuten jüngste Äusserungen von kurdischen Politikern darauf hin, dass ihren Einheiten nun doch die Rolle einer "Nordallianz" zukommt. Nach einem Bericht der "Washington Post" sollen die Einheiten von Barzanis KDP und Talabanis PUK von Norden und Osten eine Bodenoffensive auf Kirkuk starten und dabei der amerikanischen Luftwaffe die Koordinaten für gezielte Bombardements liefern. Beide Seiten haben Washington zugesagt, die Stadt selbst nicht zu besetzen. Dabei werden vermutlich wie schon 1991 auch diesmal regimetreue bewaffnete kurdische Milizen eine entscheidende Rolle spielen. Damals wie heute wurde ihnen eine Generalamnestie versprochen, wenn sie ihre Waffen gegen das Regime wenden.Die Gefahr von Akten der Lynchjustiz ist damit keineswegs gebannt. 1991 waren es vor allem Zivilisten, die beim Sturm auf die Gefängnisse an ihren Peinigern Rache übten. Zwar bereiten die kurdischen Kommandanten ihre Kämpfer derzeit in Kursen auf die Achtung des Kriegsrechts vor, und Rechtsanwälte halten in Dörfern nahe der irakisch-kurdischen Demarkationslinie Kurse ab, in denen sie die Bewohner auffordern, arabischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Damit sind aber spätere Konflikte um Besitztitel keineswegs vom Tisch. Nach 1991 waren es nicht zuletzt die ehemaligen Kollaborateure, die den kriegerischen Konflikt zwischen KDP und PUK schürten, indem sie sich auf die eine oder andere Seite schlugen, um ihre Ansprüche auf Land und Macht durchzusetzen. Da sie in der Lage sind, mehrere hundert Kämpfer zu rekrutieren, haben beide Parteien ihre Hilfe oft bereitwillig angenommen.
Zankapfel zwischen DKP und PUK
Vorläufig haben sich die beiden Parteichefs im nationalen Interesse auf eine gemeinsame Politik geeinigt. Das Bündnis könnte aber leicht zerbrechen, wenn eine Seite glaubt, die Kirkuk-Frage militärisch für sich entscheiden zu können. Die Leidtragenden wären diesmal nicht nur die kurdische, sondern vermutlich auch die arabische und die turkmenische Zivilbevölkerung. Insofern werden nicht nur die Amerikaner beweisen müssen, ob sie es mit dem Versprechen von Demokratie ernst meinen, sondern auch die politische Führung der Kurden.Die Autorin ist Ethnologin und freie Journalistin. Sie bereist regelmässig den Nordirak.